„Memory Gaps“ - die Kunst-Aktion des Gedenkens der deutsch-österreichischen Malerin Konstanze Sailer besitzt zwei Ebenen: eine realpolitische und eine historisch-politische Ebene, die mittels Tusche auf Papier erarbeitet werden.
Tusche auf Papier wurde als Technik gewählt, um der "Filigranität" von Flugblättern nahezukommen, die für Widerstandsgruppen wie etwa die Weiße Rose das wichtigste Kommunikationsmittel waren. Tusche auf Papier erinnert an die „Papierfetzen“, auf denen in Konzentrationslagern Kunstwerke entstanden.
Die realpolitische Ebene der Kunst-Aktion des Gedenkens:
Monat für Monat werden Ausstellungen in virtuellen Räumen eröffnet. Diese Galerien befinden sich ausnahmslos in Straßen oder an Plätzen Wiens und anderer Städte, die es (noch) nicht gibt, die es jedoch geben sollte. Straßen mit Namen von Opfern der NS-Diktatur. Monat für Monat wird damit eine Erinnerungslücke geschlossen. Zusätzlich zu den vorgeschlagenen Straßennamen der Opfer werden auch Umbenennungen von Straßen angeregt: Von jenen Straßen und Plätzen, die heute noch Namen von Personen tragen, die im Naheverhältnis zum Nationalsozialismus standen. Monatlich wird auf diese Weise das kollektive Gedächtnis erweitert.
Die historisch-politische Ebene der Kunst-Aktion des Gedenkens:
Die unfassbare Katastrophe des Nationalsozialismus ist europaweit bereits durch zahlreiche Ausstellungen, Initiativen, Museen und Gedenkstätten, insbesondere auch innerhalb der ehemaligen Konzentrationslager dokumentiert. Weniger präsent ist ein Detail des grausamen KZ-Alltags, der kein Leben, sondern ein tägliches Sterbenwerden war: Die Entmenschlichung und Entwürdigung der Opfer begann zum einen mit den bekannten Häftlingsnummern. Zum anderen, in der Öffentlichkeit heute weniger bekannt, bezeichneten die sogenannten „Winkel“, farbige Dreiecke, die Kategorien bzw. Gruppen von Häftlingen. Nicht nur die Namen waren damit den Menschen entzogen und durch Nummern ersetzt. Die Entindividualisierung ging sogar so weit, dass Millionen von Menschen in den Vernichtungslagern auf einige wenige menschenverachtende Kategorien zusammengefasst wurden: Politische Häftlinge, Berufsverbrecher, Emigranten, Bibelforscher, Homosexuelle und Asoziale. Diese Kennzeichnungen wurden farblich und mit zusätzlichen geometrischen Figuren weiter unterteilt. Juden erhielten über alle diese Kategorien hinweg einen Judenstern. Die Mörder in den Konzentrationslagern, die SS, die Gestapo sowie die übrigen Wachmannschaften wurden mit Schautafeln dieser Winkel „geschult“.
Schreie und Aufschreie – gemalte Todesphoneme:
Die gemalten Kiefer, die zum Schrei geöffnete Münder sind wie einzelne Laute, eingeschrieben in die Landschaften um die Konzentrationslager. Jeder einzelne Schrei zerriss die Stille, jeder repräsentierte seinen eigenen Tod. Jeder zum Aufschrei geöffnete Kiefer ist einem Laut zugeordnet. Jäh unterbrochene Sprache. Kein Laut gleicht dem anderen, jede Verlautung ist eine eigene, die des je eigenen Sterbens – phonematische Orthografie des Krieges.
Die Kiefer sind in das Bild gesetzte sprachliche Zeichen. Sie ordnen zu: Kiefer zu Verlautung, Schriftzeichen zu Todesphonem. Die Linienführung der Kiefer mit ihren Viertelbögen entspricht lautlicher Konservierung. Im Hören des Lautes ist dessen Verstehen mit inbegriffen. Die Aufschreie sind in unser Gedächtnis graviert, auch wenn die Kiefer der Todesmaschinerie und Verbrennung in den Vernichtungslagern zum Opfer fielen.
Die Schreie sind nur scheinbar verklungen, ihr Nachhall hat sich in unsere Erinnerung eingeschrieben. Die Bildtitel „Endloser Schrei“, „Aufschrei“ und „Schrei“ werden dabei jeweils farblich den Winkeln zugeordnet. Sie repräsentieren damit die Entmenschlichung aller der Vernichtung preisgegebenen Opfer. Die malerisch konservierten Schreie tragen keine Namen, sondern individuelle Uhrzeiten, sie sind Momente des Schmerzes.