Kunstinitiative

des Gedenkens

von

Konstanze Sailer

Der Balkon, auf dem Hitler "niemals" stand

Intervention IV: 01. - 31. März 2020

Der im Volksmund "Hitler-Balkon" genannte Bauteil wurde 1939 an den Hauptturm des Wiener Rathauses angefügt. Ein Abriss nach über 80 Jahren wäre nunmehr höchst an der Zeit gewesen, meint Memory Gaps.

 

Aus Anlass des höchst zweifelhaften Jahrestages der Geburt Adolf Hitlers vor nunmehr 131 Jahren, boten die vergangenen beiden Jahre eine besondere historische Chance. Hitler wurde nicht nur im April (1889) geboren, sondern er beging auch im April (1945) Selbstmord in Berlin. Und im Frühjahr (1938) stand er nicht nur auf dem Altan der Wiener Hofburg und verkündete "den Eintritt meiner Heimat in das Deutsche Reich", sondern er trat im April – in der Sichtachse vis-à-vis – auch auf einem eigens für ihn errichteten und später aus Stein nachgebauten Balkon auf dem Wiener Rathaus vor die jubelnde Menge.

ORF, 13.03.2020: Keine Tafel für Hitler-Balkon am Rathaus. Interventionen Memory Gaps 2018-2020.
ORF, 13.03.2020: Keine Tafel für Hitler-Balkon am Rathaus. Interventionen Memory Gaps 2018-2020.

Seit April 2019 hatte die Stadt Wien aufgrund von Renovierungsarbeiten am Hauptturm des Wiener Rathauses die Chance, diesen an die prominente Fassade wie ein Steindenkmal angefügten Balkon kostengünstig zu entfernen.

Hitler auf dem provisorischen Holzbalkon des Wiener Rathauses. Nachbau des Steinbalkons wenige Monate später. Foto 1938 Lothar Rübelt, ©: ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung. Foto 2018 ©: Memory Gaps
Hitler auf dem provisorischen Holzbalkon des Wiener Rathauses. Nachbau des Steinbalkons wenige Monate später. Foto 1938 Lothar Rübelt, ©: ÖNB Bildarchiv und Grafiksammlung. Foto 2018 ©: Memory Gaps

 

Hitler zeigte sich an jenem 9. April 1938, dem Tag vor der sog. "Heiligen Wahl" (Neue Freie Presse, 10.04.1938), der "Volksabstimmung über die Wiedervereinigung Österreichs mit dem Deutschen Reich", der jubelnden Menge. Er trat aufgrund des Begeisterungssturmes der Massen mit Sprachchören, "... wir wollen unseren Führer sehen!" (Neues Wiener Tagblatt, 10.04.1938), sogar mehrfach auf den provisorischen Holzbalkon. Der gesamte Propaganda-Festakt wurde aus dem großen Festsaal des Rathauses über Lautsprecher auf den davor in Adolf Hitler Platz umbenannten Rathausplatz übertragen.

 

Wie ein Denkmal für Hitler

 

Zu Ehren Hitlers wurde, mit Baubescheid vom 8. Dez 1938, anstelle des provisorischen Holzbalkons ein Steinbalkon errichtet – vor 81 Jahren! Dieser noch heute an der Hauptfassade des Wiener Rathauses befindliche Balkon, der zudem täglich von nichtsahnenden Touristen fotografiert wird, ist kein ursprünglicher Bauteil des 1872-83 im neogotischen Stil errichteten Gebäudes, sondern wurde in der NS-Zeit baulich angefügt. Der sog. "Hitler-Balkon" stellt zudem auch eine architektonisch-ästhetische Irritation dar, blickt man in seitlicher oder frontaler Ansicht auf die vertikale Linienführung des Hauptturmes.

Wiener Rathaus, Hauptturm mit "Hitler-Balkon". Foto 2018 ©: Memory Gaps
Wiener Rathaus, Hauptturm mit "Hitler-Balkon". Foto 2018 ©: Memory Gaps

 

Warum dieser nachträglich als Stein-Denkmal für Hitler errichtete Balkon erhaltenswert sein soll, entzieht sich dem Verständnis: sowohl aus architektonischer und politischer, als auch aus historisch-kultureller Perspektive ist es unnachvollziehbar, warum dieser Balkon nicht abgerissen werden sollte! Ausgerechnet jetzt, wo die gesamte Fassade des Hauptturms eingerüstet ist, um saniert zu werden, wären die Kosten für Abbruch und Rückbau des Balkons minimal.

 

Und gerade jetzt stellte eine dokumentierte Entfernung ein klares kulturpolitisches Statement der Stadt Wien dar – nicht zuletzt auch im Sinne der Formensprache Friedrich Schmidts, des renommierten Architekten der Ringstraßenzeit. Die Idee einer baulichen Entfernung des Balkons in Verbindung mit einer Kunstinstallation am Wiener Rathausturm stammt von Memory Gaps. Bei den 2016 durchgeführten Recherchen betr. der 1938 vorgenommenen Umbenennung des Rathausplatzes in Adolf Hitler Platz, stieß Memory Gaps auf diese veritable Wiener Erinnerungslücke (die Wien-Bibliothek berichtete im Rahmen einer Ausstellung 2018, in den Räumen des Rathauses, darüber).

 

Für die Zeit der Renovierungsarbeiten am Hauptturm des Wiener Rathauses, die 2020 noch immer andauern, schlug Memory Gaps eine Gedenkinstallation für Jenny Bernstein vor: "Amber Tears – Bernsteins Tränen". Jenny (Eugenie) Schaffer-Bernstein (* 27. Juli 1888 in Wien; † nach dem 26. Feb. 1943 im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau) war eine österreichische jüdische Schauspielerin, die an zahlreichen renommierten deutschen Bühnen und mit Regisseuren wie Max Reinhardt u.a. arbeitete.

ORF news / ORF Wien news, 14. März 2020, "Hitler-Balkon", Memory Gaps
ORF news / ORF Wien news, 14. März 2020, "Hitler-Balkon", Memory Gaps

Die historische Auseinandersetzung mit belastetem Erbe bleibt schwierig. Mit diesem einstmaligen Un-Ort des Proklamierens an der Hauptfassade des Wiener Rathauses hätte vieles geschehen können. Lediglich "Dienst nach Vorschrift" zu machen, und einen Balkon weiterhin zu erhalten, auf dem Hitler "niemals" stand, wirkt nach acht Jahrzehnten jedoch einfallslos und bestürzend unzureichend.