Konstanze Sailer
Tusche auf Papier
Galerie Ort der Kunst
Rothkirchstraße 42
80636 München
Friedrich Hilble war einer von vielen "äußerst pflichtgetreuen" städtischen Beamten in München, der sich in den 1930er-Jahren durch "uneingeschränkte Loyalität" zum NS-Regime "überaus verdient" gemacht hatte. Er agierte offen antisemitisch, indem er, als Leiter des städtischen Wohlfahrtsamtes bis 1937, unter anderem die Sozialhilfe für viele Juden verweigerte und darüber hinaus aufgrund penibelster Befolgung und Auslegung der NS-Gesetzgebung direkt und indirekt an der Deportation jüdischer Mitbürger in Konzentrationslager beteiligt war. Anstelle von Friedrich Hilble sollte künftig in Neuhausen-Nymphenburg an Henriette Rothkirch erinnert werden. Bis zum heutigen Tag existiert in München keine Straße, die ihren Namen trägt. Hingegen ist nach Hilble heute noch eine Straße im Münchner Stadtbezirk Neuhausen-Nymphenburg benannt.
Seit 2015 erinnert Memory Gaps an Henriette Rothkirch (* 09. Dez. 1900 in München; † 31. März 1942 in der NS-Tötungsanstalt Bernburg a. d. Saale). Henriette Rothkirch wurde am 24. Februar 1939 in Wien verhaftet, zunächst in das KZ-Lichtenburg und wenige Monate später in das KZ-Ravensbrück deportiert. Die Haftgründe lauteten: "Jüdin" und "politischer Widerstand". Henriette Rothkirch wurde am 31. März 1942 in Bernburg ermordet.
Maria Luiko
Memory Gaps unterstützt auch den 2019 vonseiten der Bezirkspolitik Neuhausen-Nymphenburg eingebrachten Vorschlag einer Umbenennung der
Hilblestraße in Maria-Luiko-Straße. Luiko lautete der Künstlername der Malerin und Grafikerin Marie-Luise Kohn, geboren 1904 in München, wohnhaft in Neu-hausen, nach
vergeblichen Ausreise-versuchen während der späteren 1930er Jahre schließlich deportiert und im November 1941, im von der deutschen Wehrmacht besetzten Kaunas (Litauen), ermordet.
G. E. W. I. Hendelsohn
In diesem Zuge könnte auch an die maßgebliche jüdischstämmige Verlegerfamilie der in der Hilblestraße ansässigen renommierten Verlagsgruppe Droemer Knaur erinnert werden. Gabriel Hendelsohn (1861-1916), dessen Söhne Erich und Willy und dessen Tochter Irma.
Im Zuge der "Arisierung"
des Verlages war die jüdischstämmige Familie Hendelsohn gezwungen, per Ende 1933 operativ aus dem Verlag auszuscheiden und wurde, teils als Gesellschafter, als Teilhaber bzw. gemeinsam mit Adalbert Droemer mit der Verlagsleitung befasst, von letzterem ausbezahlt.
Die Leben der Betroffenen
nahmen durch diese Zäsur andere Verläufe. Diese sehr frühe "Verlags-Arisierung" soll jedoch u. a. aufgrund der ausbezahlten Summe nicht mit den zahllosen anderen schamlosen und verheerenden NS-Enteignungen gleichgesetzt werden, bei denen für jüdisches Vermögen nichts oder nahezu nichts abgegolten wurde.
Die weiteren Lebensverläufe
Irma Rahn (*1892, geb. Hendelsohn) wanderte 1934 mit Ihrem Mann und ihrer Tochter nach Spanien aus und verstarb dort 1944.
Erich Hendelsohn (*1895) und sein Bruder Willy (*1904), die beide kurzfristig im Nov. und Dez. 1938 im KZ-Sachsenhausen inhaftiert wurden, emigrierten danach. Willy
gelang es, mit seiner Frau und seiner Tochter in die USA zu flüchten; er war im amerikanischen Verlagswesen tätig und starb 1975 in New York. Erich emigrierte mit seiner Ehefrau
Anfang 1939 nach Brasilien und zehn Jahre später, 1949, nach Los Angeles, wo er wenige Monate nach seiner Übersiedelung Selbstmord beging.
In der Hilblestraße
könnten Gedenktafeln für die Mitglieder der Verlegerfamilie Hendelsohn angebracht werden; nicht nur, weil deren Leben einen anderen Verlauf nehmen mussten, sondern auch, weil deren gewaltsam herbeigeführtes Ausscheiden aus dem Verlag die Verlagsgeschichte beeinflusst hat. (Vgl.: Droemer Knaur. Die Verlagsgeschichte 1846 – 2017, München 2017)
Ein Blick auf die Straßenkarte
Münchens zeigt, dass die Hilblestraße direkt auf die Dachauer Straße stößt. Memory Gaps regt deshalb erneut an, die nach Friedrich Hilble benannte Straße umzubenennen, denn man kann sich kulturell nicht an der Ecke Hilble- und Dachauer Straße ohne Weiteres verabreden. Solche Straßen dürfen verkehrsplanerisch nicht auf einander treffen, denn derart harte und zudem nicht kontextualisierte Berührungspunkte können niemals zu Brücken für die Zukunft werden.
Das unfassbare Leid der Opfer
entzieht sich der Sprache. Die Aufschreie, die zum Schrei geöffneten Kiefer, in den tausenden Tuschen auf Papier von Konstanze Sailer sind
in das Bild gesetzte Zeichen. Jeder Kiefer repräsentiert den Tod eines Menschen, ein Ereignis, ungleich jedem anderen.