Kunstinitiative

des Gedenkens

von

Konstanze Sailer

"Hendelsohn"

Ausstellung 01. - 31. Januar 2020

 

Konstanze Sailer

 

Tusche auf Papier

 

 

 

 

Galerie Ort der Kunst

Rothkirchstraße 42                    

80636 München

  

 

Friedrich Hilble war einer von vielen "äußerst pflichtgetreuen" städtischen Beamten in München, der sich in den 1930er-Jahren durch "uneingeschränkte Loyalität" zum NS-Regime "überaus verdient" gemacht hatte. Er agierte offen antisemitisch, indem er, als Leiter des städtischen Wohlfahrtsamtes bis 1937, unter anderem die Sozialhilfe für viele Juden verweigerte und darüber hinaus aufgrund penibelster Befolgung und Auslegung der NS-Gesetzgebung direkt und indirekt an der Deportation jüdischer Mitbürger in Konzentrationslager beteiligt war. Anstelle von Friedrich Hilble sollte künftig in Neuhausen-Nymphenburg an Henriette Rothkirch erinnert werden. Bis zum heutigen Tag existiert in München keine Straße, die ihren Namen trägt. Hingegen ist nach Hilble heute noch eine Straße im Münchner Stadtbezirk Neuhausen-Nymphenburg benannt.

 

Seit 2015 erinnert Memory Gaps an Henriette Rothkirch (* 09. Dez. 1900 in München; † 31. März 1942 in der NS-Tötungsanstalt Bernburg a. d. Saale). Henriette Rothkirch wurde am 24. Februar 1939 in Wien verhaftet, zunächst in das KZ-Lichtenburg und wenige Monate später in das KZ-Ravensbrück deportiert. Die Haftgründe lauteten: "Jüdin" und "politischer Widerstand". Henriette Rothkirch wurde am 31. März 1942 in Bernburg ermordet.

"Schrei 09:28 Uhr", 2019, 48 x 36cm
"Schrei 09:28 Uhr", 2019, 48 x 36cm

 

 

 

Maria Luiko

 

Memory Gaps unterstützt auch den 2019 vonseiten der Bezirkspolitik Neuhausen-Nymphenburg eingebrachten Vorschlag einer Umbenennung der Hilblestraße in Maria-Luiko-Straße. Luiko lautete der Künstlername der Malerin und Grafikerin Marie-Luise Kohn, geboren 1904 in München, wohnhaft in Neu-hausen, nach vergeblichen Ausreise-versuchen während der späteren 1930er Jahre schließlich deportiert und im November 1941, im von der deutschen Wehrmacht besetzten Kaunas (Litauen), ermordet.

 

 

 

 

"Aufschrei 10:38 Uhr", 2019, 48 x 36cm
"Aufschrei 10:38 Uhr", 2019, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

G. E. W. I. Hendelsohn

 

In diesem Zuge könnte auch an die maßgebliche jüdischstämmige Verlegerfamilie der in der Hilblestraße ansässigen renommierten Verlagsgruppe Droemer Knaur erinnert werden. Gabriel Hendelsohn (1861-1916), dessen Söhne Erich und Willy und dessen Tochter Irma.

 

 

 

 

"Aufschrei 11:42 Uhr", 2019, 48 x 36cm
"Aufschrei 11:42 Uhr", 2019, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Im Zuge der "Arisierung"

 

des Verlages war die jüdischstämmige Familie Hendelsohn gezwungen, per Ende 1933 operativ aus dem Verlag  auszuscheiden und wurde, teils als Gesellschafter, als Teilhaber bzw. gemeinsam mit Adalbert Droemer mit der Verlagsleitung befasst, von letzterem ausbezahlt.

 

 

 

 

 

"Aufschrei 12:39 Uhr", 2019, 48 x 36cm
"Aufschrei 12:39 Uhr", 2019, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Die Leben der Betroffenen

 

nahmen durch diese Zäsur andere Verläufe. Diese sehr frühe "Verlags-Arisierung" soll jedoch u. a. aufgrund der ausbezahlten Summe nicht mit den zahllosen anderen schamlosen und verheerenden NS-Enteignungen gleichgesetzt werden, bei denen für jüdisches Vermögen nichts oder nahezu nichts abgegolten wurde.

 

 

 

 

 

"Aufschrei 14:02 Uhr", 2019, 48 x 36cm
"Aufschrei 14:02 Uhr", 2019, 48 x 36cm

 

 

 

Die weiteren Lebensverläufe

 

Irma Rahn (*1892, geb. Hendelsohn) wanderte 1934 mit Ihrem Mann und ihrer Tochter nach Spanien aus und verstarb dort 1944. Erich Hendelsohn (*1895) und sein Bruder Willy (*1904), die beide kurzfristig im Nov. und Dez. 1938 im KZ-Sachsenhausen inhaftiert wurden, emigrierten danach. Willy gelang es, mit seiner Frau und seiner Tochter in die USA zu flüchten; er war  im amerikanischen Verlagswesen tätig und starb 1975 in New York. Erich emigrierte mit seiner Ehefrau Anfang 1939 nach Brasilien und zehn Jahre später, 1949, nach Los Angeles, wo er wenige Monate nach seiner Übersiedelung Selbstmord beging.

 

 

 

"Aufschrei 15:45 Uhr", 2019, 48 x 36cm
"Aufschrei 15:45 Uhr", 2019, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

In der Hilblestraße

 

könnten Gedenktafeln für die Mitglieder der Verlegerfamilie Hendelsohn angebracht werden; nicht nur, weil deren Leben einen anderen Verlauf nehmen mussten, sondern auch, weil deren gewaltsam herbeigeführtes Ausscheiden aus dem Verlag die Verlagsgeschichte beeinflusst hat. (Vgl.: Droemer Knaur. Die Verlagsgeschichte 1846 – 2017, München 2017)

 

 

 

"Aufschrei 16:57 Uhr", 2019, 48 x 36cm
"Aufschrei 16:57 Uhr", 2019, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

Ein Blick auf die Straßenkarte

 

Münchens zeigt, dass die Hilblestraße direkt auf die Dachauer Straße stößt. Memory Gaps regt deshalb erneut an, die nach Friedrich Hilble benannte Straße umzubenennen, denn man kann sich kulturell nicht an der Ecke Hilble- und Dachauer Straße ohne Weiteres verabreden. Solche Straßen dürfen verkehrsplanerisch nicht auf einander treffen, denn derart harte und zudem nicht kontextualisierte Berührungspunkte können niemals zu Brücken für die Zukunft werden.

 

 

 

 

 

"Schrei 18:12 Uhr", 2019, 48 x 36cm
"Schrei 18:12 Uhr", 2019, 48 x 36cm

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Das unfassbare Leid der Opfer

 

entzieht sich der Sprache. Die Aufschreie, die zum Schrei geöffneten Kiefer, in den tausenden Tuschen auf Papier von Konstanze Sailer sind in das Bild gesetzte Zeichen. Jeder Kiefer repräsentiert den Tod eines Menschen, ein Ereignis, ungleich jedem anderen.