Konstanze Sailer
Tusche auf Papier
Galerie Artspace Prater
Leonore-Brecher-Platz 42
1020 Wien
Leonore Rachelle Brecher (* 14. Okt. 1886 in Botoschan, (Botosani, Rumänien); † 18. Sept. 1942 in der NS-Vernichtungsstätte Maly Trostinec (nahe Minsk), war eine österreichische Zoologin. Sie forschte u. a. zur Vererbung erworbener Eigenschaften bei Tieren, wie etwa Fähigkeiten zur Farbanpassung an die Umwelt, z. B. bei Schmetterlingen. Ab 1918 arbeitete sie an deutschen und englischen Forschungseinrichtungen, hauptsächlich jedoch in der Wiener Biologischen Versuchsanstalt, im damals international renommierten Vivarium im Wiener Prater. Ihre Habilitationsversuche scheiterten 1926 aufgrund des Antisemitismus der Habilitationskommission. Im April 1938 wurde Leonore Brecher aus der Biologischen Versuchsanstalt entlassen und arbeitete als Lehrerin in einer jüdischen Schule in Wien-Leopoldstadt. Am 14. Sept. 1942 wurde sie aus der Rembrandtstraße deportiert und nur vier Tage später, am Ankunftstag, im Vernichtungslager Maly Trostinec ermordet.
Bis zum heutigen Tag existiert in Wien keine Straße, die ihren Namen trägt. Hingegen ist nach Oswald Thomas heute noch ein Platz in Wien-Leopoldstadt benannt. Thomas war Astronom und Begründer des Wiener Planetariums, Mitglied im NSLB, NSAHB sowie der NSV und stellte ab 1938 mehrere Anträge auf NSDAP-Mitgliedschaft, die wegen seiner früheren Zugehörigkeit zu einer Freimaurerloge jedoch abgelehnt wurden. Anstelle von Oswald Thomas sollte künftig im Wiener Prater an Leonore Brecher erinnert werden.
„Die Puppenfärbungen
des Kohlweißlings“ lautet der Titel
der 1916 approbierten Dissertation Leonore Brechers zum Thema der Farbanpassung von Schmetterlingen.
Die Übertragbarkeit
von Eigenschaften, welche im Laufe eines Lebens erworben werden (Lamarckismus), wurde 1922 an Schmetterlingspuppen experimentell nachgewiesen.
„Falter, über die Kirchhof-Mauer
herübergeworfen vom Wind,
trinkend aus den Blumen der Trauer,
die vielleicht unerschöpflicher sind ...“
Rainer Maria Rilke
Nach der
Einnahme von Minsk im Juni 1941 wurde außerhalb der Stadt das NS-Vernichtungslager Maly Trostinec geplant und später als NS-Vernichtungsstätte betrieben.
Das Gelände
der Vernichtungsstätten stand im Eigentum des Befehlshabers der NS-Sicherheitspolizei und des NS-Sicherheitsdienstes.
Zwischen 1942 und 1944
wurden im Vernichtungslager Maly Trostinec an die 60.000 Menschen – zumeist durch Erschießung im nahe gelegenen Kiefernwald – ermordet.
Deportationszüge
umfassten in vielen Fällen genau 1.000 Menschen. Die Häftlings-nummer von Leonore Rachelle Brecher während des Transports lautete: 703.
Dargestellte Kiefer
sind in das Bild gesetzte sprachliche Zeichen. Die Tuschen von Konstanze Sailer sind Andeutungen und Zuordnungen: Kiefer zu Aufschrei, Schriftzeichen zu Todesphonem.
Schreie und Aufschreie
sind jäh unterbrochene Sprache. Schreie tragen keine Namen, sondern lediglich individuelle Uhrzeiten. Sie repräsentieren Momente von Ver- wundung und Tod. Erst im Nachhall von Aufschreien wird die Erinnerung dauerhaft.
Jeder
der zum schmerzerfüllten Schrei aufgerissenen Kiefer ist einem Laut zugeordnet. Nach dessen Verklingen bleibt sein Nachhall bestehen. Dieser ruft die Aufschreie zurück in unser kollektives Gedächtnis.